„Leben? oder Theater?“ ist das Lebenswerk der Künstlerin Charlotte Salomon (geboren am 16. April 1917 in Berlin; ermordet am 10. Oktober 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau). Nach ihrer Flucht 1939 aus Berlin nach Südfrankreich aufgrund der Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus, schuf sie in nur zwei Jahren diesen Werkzyklus, den sie als „DREIFARBEN SINGESPIEL“ bezeichnete und der in Prolog, Hauptteil und Nachwort untergliedert ist. Das Werk besteht aus von ihr ausgewählten 769 Blättern mit Gouachen und Zeichnungen sowie 320 Transparentseiten mit Texten, Verweisen auf Musik und szenischen Anweisungen. Der Zuordnung zu einer spezifischen Gattung entzieht sich das Werk „Leben? oder Theater?“. Es vereint Elemente von Autobiographie, Tagebuch und Musiktheater, nimmt teilweise die Graphic Novel vorweg und ist beeinflusst vom Film. Am ehesten lässt es sich wahrscheinlich als multimediales Meisterwerk beschreiben.
Die Figuren in „Leben? oder Theater?“ basieren auf Salomons familiärem und persönlichem Umfeld, werden jedoch von ihr subjektiv gezeichnet und zu fiktiven Charakteren abstrahiert. Die Grenzen zwischen Faktum und Fiktion verschwimmen. Ihre Lebens- und Familiengeschichte ist geprägt vom Suizid der Tante, die auch Charlotte hieß, und der Mutter, als sie ein Kind war. Nachdem sich auch ihre Großmutter im Exil in Südfrankreich umbringt, entscheidet sie sich trotz ihrer eigenen Neigung zu Depressionen bewusst für das Leben und dafür dieses Werk zu schaffen:
„[…] und blieb allein mit ihren Erlebnissen und dem Pinsel. Doch auf die Dauer konnte ein solch tagnächtliches Leben selbst bei einem dazu ‚veranlagten‘ Geschöpf nicht ertragen werden. Und sie sah sich vor die Frage gestellt, sich das Leben zu nehmen oder etwas ganz verrückt Besonderes zu unternehmen.“ (https://charlotte.jck.nl/detail/M004922)
Malen wird für Charlotte Salomon zur existenziellen Form des künstlerischen Selbstausdrucks, der Selbsttherapie und der Selbstentfaltung. Ihr Werk „Leben? oder Theater?“ ist ein bedeutendes Zeugnis des kreativen Überlebenswillens in Zeiten des Nationalsozialismus in Deutschland, des Holocausts und des Zweiten Weltkriegs. Ihre Illustrationen erzählen auch die Geschichte ihrer Selbstbehauptung durch die Kunst.
1943 besetzten deutsche Truppen Südfrankreich. Aufgrund ihrer Schwangerschaft heiratet Charlotte Salomon kurz vor der Festnahme durch die Nationalsozialisten den österreichischen Emigranten Alexander Nagler. Am 23. September 1943 werden Charlotte Salomon und Alexander Nagler festgenommen und in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Sie waren denunziert worden. Charlotte Salomon wurde vermutlich noch am Tag ihrer Ankunft in Auschwitz am 10. Oktober 1943 ermordet, da sie im fünften Monat schwanger war. Alexander Nagler starb am 2. Januar 1944 an den Folgen der unmenschlichen Haftbedingungen.
Ihr eigenes Ende muss Charlotte Salomon geahnt haben. Eingeschlagen in braunes Packpapier, bringt sie kurz vor der Festnahme ihr künstlerisches Werk bei dem befreundeten Arzt Dr. Moridis in Sicherheit: „Sorg gut dafür, es ist mein ganzes Leben“, sagt sie zu ihm.
1946 übergibt der Arzt ihre Arbeiten Ottilie Moore, eine verwitwete Erbin aus Brooklyn, New York, deutscher Abstammung, die während des Zweiten Weltkriegs in ihrer Villa L’Ermitage in Villefranche sur-Mer jüdische Kinder sowie Charlotte Salomon und ihre Großeltern, aufgenommen hatte. 1947 reisen ihr Vater und ihre Stiefmutter zu ihr, um das Werk zu erhalten, aber erst 1961 findet im Museum Fodor in Amsterdam eine erste Ausstellung zu „Leben? oder Theater?“ statt. 1971 wurde das reichhaltige Konvolut vom Vater an das Jüdische Museum Amsterdam übergeben und wird seither dort aufgearbeitet und verwaltet. Das gesamte Werk aus 769 Gouachen und 320 Transparentseiten ist mit meist zeitgenössischen Aufnahmen der Lieder über die Homepage des Museums online verfügbar.
Griselda Pollock:
Charlotte Salomon and the Theatre of Memory
Griselda Pollock:
Crimes, Confession & the Everyday: Challenges Reading Leben? oder Theater? (1941-42) | Yale University